Steilküsten, allen voran die einzigartige Kreideküste auf dem Jasmund, sind typisch für Rügen. Ob am Zickerschen oder Reddevitzer Höft, am Lobber Ort, am Göhrener Nordperd, an den Außenküsten Wittows oder des Jasmunds - Steilküsten prägen weite Teile der Rügener Küsten. Mir ist es in jedem Urlaub aufs Neue eine Freude, in diesen Gebieten auf Pflanzenpirsch zu gehen, alte Bekannte wiederzusehen oder noch nie gesehene Gewächse zu entdecken. Je nachdem, aus welchem Material Steilküsten bestehen - Kreide, Geschiebemergel, Sande oder Lehm - schwankt ihre Stabilität, denn sie sind wie kaum ein anderes Landschaftselement auf Deutschlands größter Insel den Naturgewalten ausgesetzt.
Regenwasser, die stürmische See, Frost, Wind und Sonne arbeiten unablässig an der Gestaltung dieser besonderen Lebensräume, die wie fast alle rügenschen Landschaften ein Produkt der Eiszeiten sind. Dort, wo die Ostsee nur selten oder gar nicht mehr Zugriff auf die Kliffs (wie die Steilküsten auch genannt werden) hat, siedeln sich über die Zeit diverse Pflanzen an. Ist eine Steilküste dauerhaft inaktiv, bilden sich sogar Wälder, die wie an Teilen des Göhrener Nordperds oder des Jasmunds bis an den Strand reichen können. Meist jedoch sind es vorübergehende Lebensgemeinschaften, denn jederzeit kann ein Abbruch oder eine Rutschung stattfinden. Unzählige abgestürzte Bäume und kleine Reste der Vegetation auf Erdbrocken am Strand unter den Kliffs sind sichtbarer Beleg dafür, dass alles ständig in Bewegung ist. Was gedeiht, hängt einerseits vom Untergrund und den Temperaturverhältnissen ab und andererseits davon, wie lange Pflanzen Zeit haben, sich zu entwickeln. An der Kreideküste und anderen aktiven Kliffs wie dem am Zickerschen Höft fassen meist nur wenige krautige Pflanzen, Gräser und kleinere Sträucher auf inselartigen Arealen Fuß. Auf inaktiven Hängen hingegen bilden Bäume und Sträucher wie Ahorn, Eiche, Weißdorn, Eberesche und Sanddorn sowie Wildobstarten wie Holzapfel, Holzbirne und Wildkirschen dichte Gestrüppe mit einer artenreichen Strauch- und Krautschicht aus. An manchen Steilküstenabschnitten ist die Küstendynamik derart hoch, dass keinerlei Bewuchs aufzukommen vermag. Das gilt zum Beispiel für die überwiegend sehr steilen Kreidefelsen auf dem Jasmund, Teile des Lobber Ortes oder des Zickerschen Höfts. Fotos von verschiedenen Steilküstenabschnitten finden Sie übrigens unter den Bildern der Pflanzen am Ende der Seite.
Weisen Steilküstenabschnitte vorwiegend niedrigen Bewuchs auf und sind permanent der Sonne ausgesetzt, gedeihen auf ihnen viele wärmeliebende Pflanzen: Orchideen, Salomonsiegel oder Nickendes Leimkraut, diverse Gräser und kleinere Sträucher. Sind die Hänge bewaldet, entdeckt man das Maiglöckchen oder den Hain-Wachtelweizen, der mit seinen blau-gelben Farben nur schwer zu übersehen ist. Welche Pflanze wo wächst, hängt - wie bereits geschrieben - außerdem entscheidend davon ab, aus welchem Material der Boden besteht. Orchideen wie die Braunrote Stendelwurz oder Knabenkräuter sind kalk- und wärmeliebend. An der Jasmunder Kreideküste finden diese botanischen Kostbarkeien daher ideale Lebensräume, denn die leuchtend weißen Hänge bestehen aus nichts anderem als Kalk - Überbleibsel unendlich vieler, winziger Lebewesen, die vor ca. 70 Millionen Jahren das Kreidemeer bewohnten. Dort, wo am Fuß der Jasmunder Küste Wasser aus den Hängen sickert, blüht hier und da das Sumpf-Herzblatt, eine überaus schöne, seltene und streng geschützte Pflanze. Ich hatte erst einmal das Glück, ein paar Exemplare davon mit eigenen Augen zu sehen. Das war ein tolles Erlebnis. Die Gemeine Pechnelke hingegen habe ich bisher nur an sandigen Kliffs oder solchen aus Geschiebemergel entdecken können. Zusammen mit Wiesen-Schlüsselblumen ist sie wohl von oberhalb der Hänge liegenden Wiesen an die Steilküste des Zickerschen Höfts verbracht worden. Einen besonderen Farbtupfer stellt der leuchtend blau blühende Große Ehrenpreis dar, den ich am Zickerschen Höft und bei Klein Zicker ausmachen konnte. Eine überaus interessante Sache ist zudem das überraschend wirkende Auftauchen des Huflattichs auf dem Material frischer Küstenabbrüche. Wie von Zauberhand tauchen im Frühjahr unzählige Huflattichpflanzen auf. Hunderte kleiner, leuchtend gelber Sonnen zieren dann mancherorts das kahle Erdreich, dem die großen, dunkelgrünen Blätter folgen.
Apropos Abbrüche. Wie bereits erwähnt sind Steilküsten immer in Bewegung. Das macht diese Gebiete nicht nur für die dort lebenden Tiere und Pflanzen gefährlich, sondern auch für Menschen. An vielen Stellen weisen Schilder auf die Gefahren hin und mahnen die Wanderer zur Vorsicht. Infolge einiger tragischer Unglücke in den letzten Jahren wurden Kreidefelsen am Kap Arkona gesperrt und so mancher Hochuferweg in das Inselinnere verlegt. Eine andere Folge der Unglücksfälle ist der Ruf nach einer kompletten Sperrung der Kreideküste oder anderer Steilküstenabschnitte, den ich weder teile noch begrüße. In den Alpen kommen jährlich zig Menschen zu Schaden oder gar ums Leben, weil sie die Pisten verlassen und Regeln missachten. Niemand schreit deswegen danach, die Alpen für den Skisport zu sperren. Es ist aus meiner Sicht doch eher so, dass sich jeder Besucher die Gefahren eines Gebietes bewusst machen und sein Handeln darauf einstellen sollte. Das Stichwort lautet: Eigenverantwortung. Jeder ist zuallererst selbst dafür veranwortlich, was er tut oder was er nicht tut. Achten Sie also darauf, was auf den Schildern steht und halten Sie sich an die Regeln. Verfolgen Sie die Informationen der Verantwortlichen in den Medien. Nach dem Winter und langen Regenperioden steigt die Gefahr von Küstenabbrüchen. Halten Sie sich in allen Jahrenszeiten nicht länger als nötig am Fuß von Steilküsten auf. Keine Pflanze, kein Fossil, kein Foto ist es wert, sein Leben zu riskieren. Kraxeln Sie nicht in den Hängen herum. Verlassen Sie die Wanderwege nicht, um von der Kante der Steilküste ein Foto zu machen. In Schutzgebieten ist es sowieso verboten, die Wege zu verlassen. Wenn die Ostsee so hoch steht, dass man am Fuß einer Steilküste kaum Platz hat, mache ich übrigens lieber einen Umweg und gehe dort nicht entlang.
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